Wahrheit ist die größte Gefahr, mit der eigenen Fehlentwicklung konfrontiert zu werden. Wie es zu dieser Fehlentwicklung kam, liest du im Folgenden.
Wenn wir die Ursachen nicht erkennen, können wir auch keine Veränderung bewirken. Tiere verhalten sich instinktiv richtig. Wir sind ins falsche Leben abgerutscht.
Beziehung
Der Mensch ist ein soziales Lebewesen. Beziehungen entscheiden über seine Entwicklung und Beziehungskultur bestimmt die Lebensqualität.
Durch Säuglingsforschung, Hirnforschung und die Erkenntnisse der Entwicklungspsychologie sind diese einfachen Aussagen in überzeugender Weise wissenschaftlich gesichert. Dabei ist die Beziehungsqualität zwischen Mutter-Kind, Vater-Kind und Mutter-Vater-Kind von entscheidender Bedeutung.
Der Säugling gestaltet in seiner Einmaligkeit und mit seinen Bedürfnissen die Beziehung aktiv mit.
Vor der Erforschung der Mutter-Kind-Interaktionen galt das Kind als ein Objekt der Erziehung, dem das „richtige und gute“ Leben beigebracht werden musste. Heute wissen wir, dass die Entwicklungschancen eines Menschen ganz wesentlich davon abhängen, ob und wie die ersten Beziehungspartner (Eltern, Geschwister, Großeltern, Krippenerzieher, Tagesmütter) in der Lage sind, die Beziehungsangebote des Kindes richtig zu verstehen und angemessen darauf einzugehen.
Der Säugling erfährt Lust oder Unlust noch ohne Möglichkeit einer rationalen Einsicht und kognitiven Verarbeitung der Betreuungsqualität. (Mein E-Book zu diesem Thema: Am Anfang war die Lust)
Deshalb ist die erlebte Qualität der frühen mütterlichen Versorgung für das Wohlbefinden und die Entwicklung des Kindes so wichtig.
Mit dem Heranwachsen des Kindes sollte die immer auch vorhandene Begrenzung an guter Mütterlichkeit als aktuelle Schwierigkeit der Mutter kommuniziert werden (z.B.: Es geht jetzt nicht …, Ich habe jetzt keine Zeit …, Ich bin jetzt überfordert …, Ich bin jetzt mit mir/meiner Arbeit beschäftigt … Solche Reaktionen sind natürlich auf das Alter des Kindes und das jeweilige Anliegen abzustimmen, aber immer kommt es darauf an, dass verständlich gemacht wird, dass das Beziehungsproblem beim Erwachsenen liegt und sich das Kind nicht als unverstanden, abgelehnt oder als falsch erleben muss.
Eine Mutter sollte wissen, dass sie vom kleinen Kind ausschließlich als Mutter wahrgenommen wird und nicht als eigenständige Person mit individuellen Bedürfnissen, Interessen und Verpflichtungen. Die Mutter ist kein Mensch für das Kind, sondern ausschließlich versorgendes Objekt, das entweder als lustvoll wahrgenommen wird oder Unlust erzeugt.
Dabei ist es für die emotionale Verarbeitung des kindlichen Erlebens und für seine Orientierung entscheidend, ob der Erwachsene mit einer Ich-Botschaft reagiert oder mit einer Du-Bewertung des Kindes.
Begrenzung akzeptieren
Wenn dem Kind etwas nicht erfüllt werden kann, sollte es wenigstens traurig sein dürfen, auch enttäuscht reagieren und vielleicht sogar wütend seinen Unmut zeigen dürfen. Und es lernt dabei, mit einer der wichtigsten Lebenserfahrungen umzugehen: der Begrenzung.
Begrenzung ist in jeder Hinsicht normal, unbegrenzte Erfüllung würde in die Sucht führen. Unendliches Wollen ist bereits ein Krankheitssymptom unerfüllter grundlegender Bedürftigkeit. Das Kind, das sich bei immer auch notwendiger Ablehnung eines Wunsches kaum beruhigen lässt, macht bereits sehr nachdrücklich auf seinen defizitären Status aufmerksam, bei dem der quengelnde Wunsch zusammen mit der heftigen Erregung Symptom eines grundlegenden Unbefriedigtseins ist.
Entstehung von Gewalt und Sucht durch Not
Je weniger die elementaren Grundbedürfnisse des Kleinkindes erfüllt werden, desto mehr sucht es nach Ersatz und Kompensation. Nur die Not lässt horten, geizen, tricksen und kämpfen; Überlebensnot macht den Menschen böse, gefährlich und gewaltbereit.
Und Not entsteht nicht nur aus Nahrungs- und Wassermangel, sondern ebenso aus Liebes- und Bestätigungsmangel sowie bei sozialer Ablehnung und Ausgrenzung.
Von den Suchterkrankungen wissen wir, dass es nicht so sehr die Drogen sind, die den Menschen süchtig machen. Vielmehr sucht der ungestillte Mensch sich Mittel, die seine Qual lindern sollen, die er dann aber ständig braucht, weil sie die Bedürftigkeit nicht löschen, sondern nur betäuben.
Bei dann zwangsläufig ständigem Mittelgebrauch können zusätzliche biochemische Abhängigkeiten entstehen, die einen Entzug nicht nur psychisch, sondern dann auch körperlich so schwer machen. Kollektiv gesehen, versammelt das Ersatzstreben ungestillter Menschen süchtige Energien, um immer mehr „Drogen“ zu gewinnen und zu konsumieren.
In Deutschland ist materielle Not mehrheitlich so gut wie überwunden Das süchtige Verhalten vieler Menschen muss deshalb vor allem als Symptom seelischer Defizite verstanden werden.
Tragischerweise zieht auch der „Knecht“ noch Vorteile aus der ungleichen Verteilung, indem er per Projektion glauben kann, die „Herren“ allein seien schuld an seinem Elend; so verwandelt er seinen entwicklungspsychologisch begründeten innerseelischen Stress in Protest und Kampf gegen Außenfeinde.
Auf diese Weise entstehen Feindschaften und keiner weiß mehr – und will es auch nicht wissen -, dass eine tiefe seelische Not auf beiden Seiten der Front die eigentliche Quelle der wechselseitigen Vorwürfe bis hin zur gezielten Gewalt gegen den erklärten Gegner ist.
Dabei sitzen Arm und Reich, Oben und Unten, Links und Rechts in Wirklichkeit in einem Boot, nämlich dem des „falschen Lebens“, und keine Seite ist, psychodynamisch gesehen, besser dran als die andere.
Keiner von beiden ist nur gut oder böse, liegt nur richtig oder falsch.
Wahrheit ist die größte Gefahr, mit der eigenen Fehlentwicklung konfrontiert zu werden, die ja in aller Regel mit vermeintlich guten Argumenten heftig verteidigt wird.
Ich bin weit davon entfernt, das Elend von Benachteiligten zu bagatellisieren. Aber ich vermag auch nicht das Leben der Erfolgreichen zu glorifizieren, deren psychosoziale Probleme weder durch Reichtum noch durch Macht oder Ruhm beseitigt werden.
Eher werden sie damit noch vermehrt, weil die Falschheit ihres Lebens unter der Goldkruste besonders schwierig zu erkennen ist.
Eine Veränderung wird dann vor allem als Verlust erlebt – wie bei jeder Sucht, wenn auf die Droge verzichtet werden soll. Die Plattitüde „Geld beruhigt, macht aber nicht glücklich!“ ist inzwischen halbwegs akzeptiert.
Aber das wichtigste Therapeutikum – Liebe statt Geld! – ist keineswegs einfach zu haben.
Wie kann ein friedliches Miteinander funktionieren?
Eine wirkliche Chance für ein friedliches Zusammenleben besteht aber nur dann, wenn Reiche und Arme bei ausreichendem materiellem Ausgleich in einer „Beziehungskultur“ lernen, sich lebensechter zu begegnen und soziale Grundbedürfnisse der Anerkennung und Bestätigung beidseitig zu befriedigen.
Unterschiede wird es immer geben, doch müssen sie nicht zu Feindseligkeiten führen, solange sie nicht durch Ungerechtigkeiten erzwungen worden sind.
Natur ist Werden und Vergehen, Wachsen und Schrumpfen. Falsches Leben ist Wachstumssucht und Verleugnung der Begrenzung des Endes. Natur ist Vielfalt und Verschiedenheit, natürlich ist das systemische Zusammenspiel der unterschiedlichen Erfahrungen und Kompetenzen.
Falsches Leben
Falsches Leben ist die Dominanz der einen über die anderen durch politische, militärische, religiöse und ökonomische Macht mit Selbstüberhöhung und Femdabwertung.
Das Schicksal einer Gesellschaft entscheidet sich an der Frage, ob Kinder erzogen werden sollen oder ob ihre Entwicklung durch reflektierte und optimierte Beziehung gestaltet wird: Erziehung oder Beziehung!
- Erziehung erzeugt gute und böse Kinder, teilt in Gewinner und Verlierer, in richtiges und falsches Verhalten. Erziehung ist verantwortlich für Fehlentwicklungen, für viele Krankheiten und Verbrechen.
- Beziehung hingegen verzichtet auf Entwicklungsziele und Bewertung. Beziehung fördert Verstehen, würdigt Verschiedenheit, Selbstwert und ermöglicht soziale Integration.
Beziehung statt Erziehung heißt
- Liebe statt Macht,
- Gemeinschaft statt Konkurrenz,
- natürliche Leistungsdynamik statt künstlicher übertriebener Anstrengung.
Die wichtigste Erkenntnis der Hirnforschung liegt darin, dass die ersten Beziehungserfahrungen des Kindes die Gehirnentwicklung wesentlich beeinflussen, und zwar bereits zu einer Zeit, bevor das Kind sprechen kann.
So bekommt die prä-verbale Beziehungsqualität eine prägende Bedeutung. Diese hängt wesentlich von der Beziehungsfähigkeit des Erwachsenen, von seiner Einstellung zum Kind, von seiner Empathiefähigkeit, sich in das Kind einfühlen zu wollen und zu können, und von seiner Reaktions-(d.h. auch Befriedigungs-)Fähigkeit ab.
Nicht, was ein Erwachsener für richtig hält, ist entscheidend, sondern was davon beim Kind ankommt.
Es gibt unzählige Eltern, die überzeugt sind, nur das Beste für ihr Kind zu tun. Womöglich wird das von dem betreffenden Kind aber ganz anders empfunden, wenn sein Befinden nicht richtig erkannt und verstanden wird.
Diese tragische Meinungsverschiedenheit bestimmt sehr oft das pädagogisch orientierte Erziehungsverhalten in Kitas, Schulen und Heimen.
Auch in Krankenhäusern dominieren in der Regel medizinisch begründete Maßnahmen über die Bedürfnislage des Kindes. Das mag einerseits unvermeidbar sein. Andererseits ließe sich durch ein empathisches Eingehen auf das kindliche Erleben eine wesentliche Brücke schlagen zwischen dem medizinisch Notwendigen und dem kindlichen Befinden.
Das würde nicht nur das Kind aus einer Stresssituation befreien, sondern auch seine Heilungschancen verbessern.
Wenn jetzt in den Kitas frühkindliche Bildung auf Kosten der notwendigen Bindung des Kindes propagiert wird, gefährdet das auch den Erfolg jedes Bildungsangebots. Bei sicherer und bestätigender Bindung dagegen kann sich das Kind aus innerem Antrieb frei entwickeln und wird ganz von alleine ein Bildungsbedürfnis entfalten und zunehmend auch artikulieren.
Die für eine gesunde Entwicklung des Kindes so wichtige frühe Bindung lässt sich deshalb nie durch Bildung ersetzen.
Gerade Letzteres wird aber von vielen Politiker-Marionetten, auf Geheiß der hinter ihnen verborgenen Kräfte, zunehmend als Begründung für eine Kita-Betreuung vorgebracht.
Die für die Gehirnentwicklung des Kindes und damit für dessen spätere Persönlichkeitsstrukturen verantwortliche frühe Beziehungsqualität muss man aus der Sicht des Kindes beurteilen. In Entsprechung zu den wesentlichen mütterlichen und väterlichen Funktionen lauten die entscheidenden Fragen zur Beziehungsqualität aus kindlicher Perspektive:
- Bin ich gewollt? Ist mein Leben erwünscht? Oder soll ich besser nicht sein („Mutterannahme“ oder „Mutterbedrohung“)?
- Werde ich in meiner Existenz freigelassen oder werde ich von der Mutter besetzt, energetisch für Mutters Leben ausgesaugt? Wird mein einmaliges Leben akzeptiert oder muss ich für Mutter leben („Mutterbesetzung“ durch eine „Vampir-Mutter“ oder „Mutterfreiheit“)?
- Bin ich wirklich geliebt? Werden alle meine normalen Bedürfnisse erkannt und zuverlässig und ausreichend bestätigt und erfüllt („Mutterliebe“ oder „Muttermangel“)?
- Darf ich mich erkennen? Darf ich so sein, wie ich bin? Oder muss ich erkennen, was von mir erwartet wird und wie ich sein soll („Mutterbestätigung“ oder „Muttervergiftung“)?
- Darf ich mich entfalten? Meine Fähigkeiten entdecken und entwickeln? Oder werde ich eingeschüchtert, geängstigt, abgewertet (“Vaterliebe” oder “Vaterterror”)?
- Werde ich hinreichend gefördert, ermutigt und unterstützt und hilfreich gefordert? Oder hat keiner Interesse an mir, kümmert sich keiner um mich, und bekomme ich keine Unterstützung und Anleitung (“Vaterförderung” oder “Vaterflucht”)?
- Werden auch meine Grenzen gesehen und respektiert? Oder muss ich mich über meine Möglichkeiten hinaus immer nur anstrengen („Vaterverständnis“ oder „Vatermissbrauch“)?
Durch Anpassung kann man im Wertekanon der aktuell dominierenden Normen sehr erfolgreich werden. Das aber ist häufig mit erhöhtem Erkrankungspotenzial verbunden und immer mit einer Entfremdung von sich selbst.
Bei massenwirksamer autoritärer und repressiver Beeinflussung durch Erziehung entsteht eine gesellschaftliche Fehlentwicklung. Das falsche Leben erscheint dann als das richtige und erwünschte, weil es zunächst durchaus erfolgreich ist – bemessen an den Mainstream-Werten – und gar nicht mehr als Fehlentwicklung wahrgenommen wird, weil ja alle (oder zumindest die meisten) so denken, urteilen und sich verhalten (“Normopathie”).
Ich fasse zusammen:
- Das falsche Leben ist die Folge von Beziehungsstörungen – von Anfang an.
- Die frühe Beziehungsqualität prägt die Persönlichkeit und entscheidet über “echtes” oder “falsches Leben”.
- Fehlentwicklungen und Fehlverhalten als Folge von Beziehungsstörungen sind schwer erkennbar, wenn eine Mehrheit davon betroffen ist.
- So können Störung, Abnormität und Destruktivität als normal, richtig und notwendig erscheinen, wie wir dies etwa im Nationalsozialismus und Sozialismus zur Kenntnis nehmen mussten und heute in einer narzisstischen Gesellschaft als Gefahr einer bedrohlichen Fehlentwicklung erkennen sollten.
Quellen:
Das falsche Leben: Ursachen und Folgen unserer normopathischen Gesellschaft von Hans-Joachim Maaz
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