Konsens im traditionellen Afrika – Ein Plädoyer für parteilose Politik, auch bei uns
Zuletzt aktualisiert am 19. August 2022
von Prof. Dr. Kwasi Wiredu
In Afrika ist die Idee des Konsenses (hundertprozentige Übereinstimmung) ein zentraler Bestandteil des sozialpolitischen Lebens. Anders als in den westlichen Ländern, wo Politiker/innen ihre eigene Agenda anpreisen und nach Wegen suchen, sie gegen alle Widerstände durchzusetzen, versuchen afrikanische Führungspersönlichkeiten einen Konsens herzustellen, bevor die Entscheidung getroffen wird. Dies geschieht nicht nur, weil es als das Richtige angesehen wird, sondern auch, weil es die effektivste Art zu regieren ist.
- Vertrauen in den Konsens
- Die politische Organisation der Ashanti – Wie ein Oberhaupt bestimmt wird
- Der hohe Wert des Konzepts der Repräsentation
- Was folgt aus diesen Überlegungen?
- Ein parteiloses System – Kooperation, nicht Konfrontation
- Westlicher Druck für das Mehrparteiensystem: eine Sackgasse?
- Parteilose Konsenspolitik: der Ausweg?
- Zum Autor
- Konsensentscheidung in der Praxis
Das Konsenssystem war vor der Kolonisierung und Missionierung durch die katholische Kirche das einzige und ist auch außerhalb hierarchischer Strukturen allgemein verbreitet. Demnach war es keine Übertreibung als Kenneth Kaunda, der (demokratisch) abgesetzte Staatspräsident Sambias, sagte:
„In unseren ursprünglichen Gesellschaften handelten wir nach dem Konsensprinzip. Eine Sache wurde in ernsthaftem Beisammensein so lange durchgesprochen, bis eine Einigung erzielt werden konnte.“
Oder auch als Nyerere, der zurückgetretene Präsident von Tansania, meinte:
„Die traditionelle Methode der Regelung des öffentlichen Lebens in afrikanischen Gesellschaften ist die freie Diskussion.“
In diesem Zusammenhang pflichtete er Guy Clutton-Brock bei,
„dass die Alten unter den großen Bäumen sitzen und miteinander sprechen, bis sie sich einig sind“
Es gibt einen wichtigen Sachverhalt bezüglich der Rolle von Konsens im afrikanischen Leben. Dieser besteht darin, dass das Vertrauen auf das Konsensprinzip kein spezifisch politisches Phänomen ist. Dort, wo Konsens politische Entscheidungsfindung in Afrika charakterisiert, geschieht das als Entfaltung eines eigenen Ansatzes sozialer Beziehungen.
In Beziehungen zwischen Erwachsenen wird Konsens üblicherweise als Basis für gemeinsames Handeln vorausgesetzt.
Versöhnung ist eine Form von Konsens. Sie bedeutet die Wiederherstellung des guten Willens durch ein Überdenken der Bedeutung der ursprünglichen Streitpunkte.
Dies beinhaltet nicht notwendigerweise eine vollkommene Identität moralischer Meinungen. Es genügt, dass alle Parteien das Gefühl haben, dass ihre Sichtweise bezüglich eines vorgeschlagenen Plans zukünftigen Handelns oder Zusammenlebens in angemessener Weise Berücksichtigung gefunden hat.
„Wenn ein Rat zusammen kam, hatte er mit dem Problem zu ringen, Teil- und Gemeininteressen miteinander zu versöhnen. Dabei war der Wert von Solidarität so hoch angesiedelt, dass es das höchste Ziel der Ratsmitglieder war, Einstimmigkeit zu erzielen, und so redeten sie, bis dies erreicht war.“ K.A. Busia
Dies ist wichtig, denn bestimmte Situationen beschwören in der Tat grundlegende Standpunkte herauf, die von keinem dialogischen Herangehen vermittelt werden können. Zum Beispiel ziehen wir entweder in den Krieg oder nicht. Das Problem ist dann, wie eine Gruppe ohne Einstimmigkeit sich eher für die eine als für die andere Option entscheiden kann, ohne irgendjemanden auszugrenzen.
Dies ist die schwierigste Herausforderung des Konsensprinzips.
Sie kann nur durch das freiwillige Aussetzen der Zweifel an der vorherrschenden Option durch die restliche Minderheit gemeistert werden. Die Durchführbarkeit hängt nicht nur von der Geduld und Überzeugungskraft der richtigen Leute ab, sondern auch von der Tatsache, dass afrikanische traditionelle Systeme des Konsenstypes nicht so ausgerichtet waren, dass sie eine Personengruppe durchgehend in die Position der Minderheit gerückt hätten.
Vertrauen in den Konsens
Zuerst sollten wir uns ansehen, wie das Vertrauen in den Konsens im konkreten Beispiel eines traditionellen afrikanischen politischen Systems funktionierte. Dabei mag es angebracht sein, im Vorhinein zu bemerken, dass afrikanische politische Systeme in der Vergangenheit erhebliche Unterschiede aufwiesen. Grundsätzlich muss unterschieden werden zwischen Systemen
- mit zentraler Autorität, die durch die Maschinerie der Regierung ausgeübt wurde,
- und solchen ohne diese Autorität, in denen soziales Leben auf keiner Ebene von einem Apparat geregelt wurde, den man eine Regierung nennen könnte.
Fortes und Evans-Pritchard klassifizieren die Zulu (aus Südafrika), die Ngwato (auch Südafrika), die Bemba (Sambia), die Banyankole (Uganda) und die Kede (Nordnigeria) als Teil der ersten Kategorie und die Logoli (aus Westkenia), die Tallensi (Nordghana) und die Nuer (Südsudan) als Teil der zweiten. (Anm. HV: Hier wird deutlich, dass die erste Kategorie die jüngere ist und die Einrichtung der Hierarchie und Herrschaft bereits übernommen hat. Die zweite Kategorie – noch unberührter von hierarchischen Machtstrukturen – beruht auf dem System der „natürlichen Autorität“, welche auf der Basis von Respekt und Vertrauen freiwillig gewährt wird.)
Es ist, oder es sollte zumindest, eine Angelegenheit von beträchtlichem Interesse für politische Denker sein, dass Gesellschaften der zweiten Ordnung – das heißt anarchistische1 Gesellschaften – in geordneter Weise existierten und funktionierten oder zumindest in nicht weniger Ordnung als zentralisierte Gesellschaften.
Es ist auch möglicherweise einfacher, in den weniger zentralisierten Ordnungen die Notwendigkeit des Konsensprinzips einzusehen. Wo die Ausübung von Autorität (wie z.B. bei der Schlichtung von Streitfällen) lediglich auf moralischem Prestige fußte, musste Entscheidung durch numerische Überlegenheit wie eine Störung erscheinen.
Interessanter aber ist es zu beobachten, dass die Gewohnheit der Konsensentscheidung in der Politik in einigen der zentralisiertesten und, wenn es darauf ankam, kriegerischsten ethnischen Gruppen Afrikas, wie den Zulu und Ashanti, sorgfältig kultiviert worden ist. In nahezu paradoxer Weise haben die Autoritäten einiger der vergleichsweise weniger zentralisierten und militarisierten Gesellschaften, wie die Bemba und Banyankole, weniger Enthusiasmus für das Konsensprinzip in politischer Entscheidungsfindung aufgebracht als die Ashanti oder Zulu.
Im unmittelbar folgenden Teil schlage ich vor, die ausgefeilte Beschreibung und Analyse des traditionellen politischen Systems der Ashanti durch K.A. Busias The Position of the Chief in the Modern Political System of the Ashanti sowie meine eigene Erfahrung auszunutzen, um das Konsensprinzip anhand des Beispiels des politischen Lebens der Ashanti zu skizzieren.
Die politische Organisation der Ashanti – Wie ein Oberhaupt bestimmt wird
Die Verwandtschaftsgruppe (lineage) ist die grundlegende politische Einheit bei den Ashanti. Weil diese ein matrilinear organisiertes Volk sind, besteht eine solche Einheit aus allen Menschen einer Stadt oder eines Dorfes, die eine gemeinsame Vorfahrin haben, und vereint in der Regel eine erhebliche Anzahl von Personen. Jede solche Einheit hat ein Oberhaupt [head], und jedes dieser Oberhäupter ist automatisch Mitglied in dem Rat, der die regierende Instanz der Stadt bzw. des Dorfes darstellt. Die Voraussetzungen für den Vorsitz über die Verwandtschaftsgruppe sind
- Alter,
- Weisheit,
- Gespür für bürgerliche Verantwortlichkeit
- sowie logisches Überzeugungsvermögen.
All diese Eigenschaften sind oft vereint im ältesten, aber noch nicht senilen Mitglied der Verwandtschaftsgruppe. In solchen Fällen ist die Wahl nahezu Routinesache. Treffen diese Eigenschaften nicht in einer bestimmten Person zusammen, kann die Wahl ausgedehnte und gewissenhafte Konsultationen und Diskussionen mit sich bringen, die auf einen Konsens abzielen. Es gibt niemals einen formellen Wahlakt.
Tatsächlich gibt es kein althergebrachtes Wort für „Wahl“ in der Ashanti-Sprache. Der Ausdruck, der zurzeit für diesen Prozess benutzt wird (aba to), ist eine offensichtlich moderne Wendung für einen modernen kulturellen Import, oder sollte man sagen: für etwas Aufgezwungenes?
Der Punkt nun, wo das Oberhaupt einer Verwandtschaftsgruppe ernannt wird, ist der Punkt, an dem das Konsensprinzip sich zum ersten Mal im politischen Prozess der Ashanti bemerkbar macht. Dieses Amt wird, wenn es einer Person übertragen wird, lebenslang übernommen, solange nicht vorher moralische, intellektuelle oder physische Degeneration einsetzt.
Als Repräsentant der Verwandtschaftsgruppe im Regierungsrat einer Stadt ist diese männliche oder in seltenen Fällen weibliche Person dazu verpflichtet, mit den erwachsenen Mitgliedern der Verwandtschaftsgruppe Beratungen zu den städtischen Angelegenheiten durchzuführen.
In jeder Sache von besonderer Bedeutung ist Konsensus das Schlüsselwort. Auch auf der Ebene des Stadtrates, der – wie bereits erwähnt – aus den Oberhäuptern der Verwandtschaftsgruppen zusammengesetzt ist, ist es das Schlüsselwort.
„Weil der König von Ratgebern umgeben wurde, deren Amt politisch war, und er selbst nur die Einheit des Volkes repräsentierte, war es gut möglich, ihn seines Amtes zu entheben.“ W.E. Abraham
Den Vorsitz über diesen Rat hat der „natürliche Herrscher“ der Stadt, Chief genannt. Dieses Wort, auch wenn es mit kolonialer Geringschätzung belegt ist, blieb selbst in den Zeiten nach der Unabhängigkeit aufgrund terminologischer Trägheit im allgemeinen Gebrauch.
Der „natürliche“ Aspekt dieser Stellung liegt in dem grundsätzlich erblichen Status: Normalerweise kann ein Chief nur aus der königlichen Familie kommen. Aber die Stellung ist nur im Prinzip erblich, denn da eine Verwandtschaftsgruppe eine recht große Gruppe von Familienmitgliedern umfasst, gibt es zu jeder Zeit eine nicht unbedeutende Anzahl qualifizierter Bewerber für diesen Posten.
Die Auswahl, die durch die „Königinmutter“ getroffen wird (Mutter oder Tante oder Schwester mütterlicherseits oder Cousine des Chiefs), muss vom Rat bestätigt und von der breiten Öffentlichkeit gebilligt werden, um letztlich gültig zu sein. Letzteres erfolgt durch eine Organisation, die wörtlich übersetzt „die Gesellschaft der jungen Leute“ heißt.
Entgegen einem bewusst geförderten Anschein gilt das persönliche Wort des Chiefs nicht als Gesetz. (Anm. HV: Viele indigene Gesellschaften verbergen aus Selbstschutz ihre sich vom Parasiten-System unterscheidenden Strukturen, sowie die wahre Bedeutung von Symbolen und Mythen.) Sondern sein offizielles Wort entspricht dem Konsens seines Rates, und nur in dieser Eigenschaft kann es Gesetz sein.
Daher kommt die Redensart der Akan, dass es keine schlechten Könige, sondern nur schlechte Ratgeber gebe. Natürlich mag ein selbstherrlicher Chief, wenn er zudem die Kühnheit dazu besitzt, manchmal erfolgreich versuchen, dem Rat seinen eigenen Willen aufzuzwingen.
Aber ein Chief mit solchen Gepflogenheiten wird mit hoher Wahrscheinlichkeit bald abgesetzt. Tatsächlich war, wie Abraham in The Mind of Africa auch in Bezug auf die Akan hervorhebt, „das Königtum eher ein heiliges denn ein politisches Amt“. Das Amt war „heilig“, da angenommen wurde, dass der König das Bindeglied zwischen der lebenden Bevölkerung und ihren verstorbenen Ahnen sei, von denen wiederum erwartet wurde, dass sie die menschlichen Interessen von ihrer Post mortem-Perspektive aus überwachen.
Soweit es politisch war, wies das Amt wesentliche Analogien zum Status eines konstitutionellen Monarchen auf. Der Chief war das Symbol der Einheit seines Königreiches und übte im normalen Ablauf seiner Pflichten eine Vielzahl zeremonieller Funktionen aus.
Aber im Unterschied zu einem konstitutionellen Monarchen war er Mitglied des regierenden Rates (zumindest als Angehöriger einer Verwandtschaftsgruppe) und dadurch in der Lage, legitimen Einfluss auf die Beratungen auszuüben, und zwar nicht aufgrund irgendwelcher göttlichen Inspiration, sondern eher dank seinen Ideen innewohnenden Überzeugungskraft.
Werden diese Tatsachen berücksichtigt, wird deutlich, dass der Rat einen stark repräsentativen Charakter hatte, sowohl im Hinblick auf seine Zusammensetzung als auch auf die Inhalte seiner Entscheidungen. Diese Art der Vertretung wurde auf allen Autoritätsebenen des Ashanti-Staates wiederholt.
Die Stadträte waren die einfachsten Bühnen politischer Autorität. Vertreter dieser Räte konstituierten die Bezirksräte, denen „paramount“ Chiefs [höchster/oberster Chief] vorsaßen. Letztere Einheiten sandten Vertreter zum nationalen Rat, dessen Vorsitz vom Asantehene eingenommen wurde, dem König der Ashanti, der die höchste Ebene traditioneller Regierung darstellte. An diesem Punkt ist es wohl bereits überflüssig zu erwähnen, dass Entscheidungen auf allen Ebenen auf dem Konsensprinzip beruhten.
Nun, beim Festhalten am Konsensprinzip handelte es sich um eine bewusste Entscheidung. Sie gründete auf dem Glauben, dass letztendlich die Interessen aller Mitglieder der Gesellschaft die gleichen sind, auch wenn die augenblickliche Wahrnehmung ihrer Interessen unterschiedlich sein kann.
Dieser Gedanke wird in einem Kunstmotiv ausgedrückt, einem Krokodil mit einem Bauch und zwei Köpfen, die im Kampf um Nahrung ineinander verklammert sind. Wenn diese Köpfe sehen könnten, dass das Essen in jedem Fall für denselben Magen bestimmt ist, würde ihnen die Irrationalität ihres Streites klar werden. Aber besteht die Möglichkeit dazu?
Die Ashanti-Antwort darauf ist „Ja, Menschen haben die Fähigkeit, sich durch ihre Differenzen hindurch bis zur letztendlichen Identität ihrer Interessen durchzukämpfen.“ Das Mittel zum Erreichen solcher Zielvorstellung besteht dieser Ansicht nach schlichtweg in rationaler Diskussion.
Hinsichtlich der Möglichkeiten dieses Mittels sind die Ashanti deutlich. „Es gibt“, sagen sie, „kein Problem menschlicher Beziehungen, welches nicht durch Dialog gelöst werden könnte.“
Dialog setzt natürlich nicht nur (mindestens) zwei Parteien voraus, sondern auch zwei im Konflikt stehende Positionen: „Ein Kopf allein hält nicht Rat.“
Dabei wurde nicht einen Moment lang in Erwägung gezogen, dass eine Stimme das ausschließliche Recht der Anhörung habe, denn eine andere Maxime besagt: „Zwei Köpfe sind besser als einer.“ Tatsächlich priesen die Ashanti (und die Akan im allgemeinen) rationale Diskussion so sehr als Weg zum Konsens zwischen Erwachsenen, dass die Fähigkeit zu elegantem und überzeugendem Diskurs zu einer der entscheidendsten Qualifikationen für höhere Ämter wurde.
Der hohe Wert des Konzepts der Repräsentation
Ich möchte betonen, dass das Streben nach Konsens eine bewusste Anstrengung ist, über das Prinzip der Mehrheitsentscheidung hinauszugehen. Es ist einfacher, eine mehrheitliche Übereinstimmung herzustellen, als einen Konsens zu erreichen. Diese Tatsache ist den Ashanti bewusst.
Aber sie verwarfen den Weg des geringsten Widerstands. Für sie ist die Meinung der Mehrheit an sich keine ausreichende Basis zur Entscheidungsfindung, denn dabei wird der Minderheit das Recht darauf vorenthalten, dass sich in der gegebenen Entscheidung auch ihr Wille widerspiegelt.
Oder um es mit den Begriffen des Konzepts der Repräsentation auszudrücken: es entzieht der Minderheit das Recht auf Repräsentation in der fraglichen Entscheidung.
Zwei Vorstellungen von Repräsentation sind in diesen Überlegungen inbegriffen.
- Es gibt die Repräsentation einer gegebenen Wählerschaft (constituency) im Rat,
- und es gibt die Repräsentation des Willens eines Repräsentanten bei der Entstehung einer gegebenen Entscheidung.
Nennen wir die erste eine formale und die zweite eine substantielle Repräsentation. Dann ist offensichtlich, dass man eine formale Repräsentation ohne ihr substantielles Gegenstück haben kann. Und dennoch dient das Formale dem Substantiellen.
Nach der Vorstellung der Ashanti ist substantielle Repräsentation ein menschliches Grundrecht.
Jeder Mensch hat das Recht, nicht nur im Rat repräsentiert zu werden, sondern auch im Prozess des Beratschlagens selbst, in Bezug auf jede Sache, die für seine Interessen oder die seiner Gruppe relevant ist.
Aus diesem Grund ist das Konsensprinzip so wichtig.
Auch mangelt es in derselben Hinsicht nicht an pragmatischen Gründen. Formale Repräsentation ohne Substanz tendiert dazu, Unzufriedenheit zu erzeugen.
Wenn das gebräuchliche System bewirkt, dass einige Gruppen sich wiederholt als substantiell nicht-repräsentierte Minderheiten wieder finden, dann institutionalisiert sich solch regelmäßig wiederkehrende Unzufriedenheit.
Das Resultat sind die wohl bekannten Missstimmigkeiten einer solchen benachteiligenden Politik. Vom Standpunkt der Ashanti aus ist Konsensus das Gegenmittel.
Aber noch einmal: Kann Konsens immer erreicht werden?
Wie bereits erwähnt, haben die Ashantis offenbar geglaubt, das könne, zumindest im Prinzip, der Fall sein. Aber angenommen, dies ist nicht der Fall. Selbst dann kann Konsens immer noch angestrebt werden.
Der entscheidende Punkt dabei ist, dass sich jedes politische System, das sich diesem Ziel widmet, institutionell von einem System unterscheiden muss, das auf schwankenden Mehrheiten basiert, wie sehr dieses auch durch „Kontrollen und Gegengewichte“ abgesichert sein mag.
Was folgt aus diesen Überlegungen?
Heutige Formen der Demokratie sind üblicherweise Systeme, die auf dem Mehrheitsprinzip basieren.
Die Partei, die die Mehrheit der Sitze oder den größten Anteil an Stimmen gewinnt, sofern das geltende System ein Verhältniswahlsystem ist, erhält die Regierungsgewalt. In einem solchen politischen System sind Parteien Verbände von Menschen mit ähnlichen Tendenzen und Bestrebungen und mit dem einzigen Ziel, Macht für die Durchführung ihrer Politik zu erhalten.
Nennen wir solche Systeme Mehrheitsdemokratien. Dann können solche, die auf Konsensus beruhen, Konsensdemokratien genannt werden. Das System der Ashanti ist eine Konsensdemokratie.
Es ist eine Demokratie, weil die Regierung nur aufgrund der Zustimmung des Volkes, in Gestalt seiner Repräsentanten und deren Kontrolle unterworfen, gebildet werden kann. Und es ist konsensbestimmt, da – zumindest als Regel – die Zustimmung nach dem Konsensprinzip ausgehandelt wird. (Im Gegensatz dazu könnte vom Mehrheitssystem gesagt werden, dass es auf einer „Zustimmung“ ohne Konsensus gründet.)
Ein parteiloses System – Kooperation, nicht Konfrontation
Darüber hinaus ist das System der Ashanti kein Parteiensystem im Sinne des Wortes „Partei“, wie es im letzten Absatz benutzt wurde und der Mehrheitsdemokratie zugrunde liegt. Jedoch in einem weiten lexikalischen Sinn gibt es auch dort Parteien.
Die Verwandtschaftsgruppen sind Parteien innerhalb des Projektes einer guten Regierung. Mehr noch, in jeder Stadt gründen die Jugendlichen eine organisierte Partei mit einem anerkannten Anführer, der berechtigt ist, diese in allen Belangen öffentlichen Interesses direkt vor dem zuständigen Rat zu vertreten (wenn auch nicht als dessen Mitglied).
Dieses System bildet aber keine Parteien in dem Sinne heraus, dass eine der genannten Gruppen sich mit dem Ziel konstituiert, Macht in einer Weise zu gewinnen, die dazu führt, dass andere nicht an dieser Macht teilhaben oder, schlimmer noch, gänzlich davon ausgegrenzt werden.
Für alle Betroffenen ist das System in Kraft, um Beteiligung an der Macht zu ermöglichen, nicht deren Inbesitznahme. Die dem zugrunde liegende Philosophie ist eine der Kooperation, nicht der Konfrontation.
„Akoko nan tiaba na enkum ba.“ Eine Henne steigt auf ihren Küken herum, aber sie bringt sie nicht um.
Ashanti-Sprichwort
Westlicher Druck für das Mehrparteiensystem: eine Sackgasse?
Im Zuge der Demokratisierung, die sich in Afrika seit einigen Jahren ereignet, standen afrikanische Diktatoren, zivile und militärische, unter anhaltendem Druck aus dem Westen, das Mehrheitsparteiensystem zu übernehmen. Für einige von ihnen wirkte sich dies politisch fatal aus, während andere schließlich Tricks entdeckten, um Mehrparteien-Wahlen zu überstehen.
Der Grund für die relative Vernachlässigung der Frage kann möglicherweise mit ihrer Schwierigkeit zusammenhängen. Sicherlich waren die Bedingungen traditionellen politischen Lebens weniger kompliziert als die der Gegenwart.
Die Verwandtschaftssysteme, die die Stütze der Konsenspolitik früherer Zeiten bildeten, sind einfach nicht in der Lage, demselben Zweck im modernen [ausgebeuteten] Afrika zu dienen. Dies trifft insbesondere auf die urbanen Gebiete zu, wo die, wenn auch in vielen Teilen Afrikas nur armselige, Industrialisierung Bedingungen erzeugt hat, wie etwa tiefe sozioökonomische Spaltungen, die alle oder viele Bestandteile ideologischer Politik in sich tragen.
Unter diesen Umständen mag es doch ein wenig zu utopisch erscheinen, die Möglichkeit eines parteilosen Herangehens an die Politik in Betracht zu ziehen. Auch mag es scheinen, als ob die obigen Ausführungen zu traditioneller Politik im wesentlichen Übertreibungen hinsichtlich der Harmonie des traditionellen Lebens beinhalten.
Tatsache ist, dass, auch wenn das Konsensprinzip in der Politik bestimmter ethnischer Gruppen in Afrika vorherrschte, historisch betrachtet die interethnischen Beziehungen zwischen genau diesen Gruppen von Natur aus durch häufige Kriege, die extremste Art der Negation des Konsensprinzips, gekennzeichnet waren oder genauer gesagt zu Grunde gerichtet wurden.
Der entscheidende Punkt hierbei ist nicht einfach, dass es von Zeit zu Zeit ethnische Kriege gab, wie bereits weiter oben eingeräumt worden ist, sondern vielmehr, dass die ethnische Orientierung verschiedener Gruppen aufgrund ihrer eigenen, nach innen gerichteten Fixierungen dazu neigte, Konflikte in ihren Beziehungen nach außen hervorzurufen.
Eine der beharrlichsten Ursachen für politische Instabilität in Afrika besteht darin, dass in sehr vielen heutigen afrikanischen Staaten bestimmte ethnische Gruppen numerisch wie politisch eine Minderheit darstellen.
In einem System der Mehrheitsdemokratie bedeutet das trotz aller Schutzmechanismen, dass sie sich beständig außerhalb der Machtkorridore befinden. Die daraus folgenden Frustrationen und Unruhen mit ihren zerstörerischen Auswirkungen auf die Politik sollten niemanden überraschen.
Parteilose Konsenspolitik: der Ausweg?
Konsens ist ganz wesentlich, um eine entscheidende Repräsentation der Repräsentanten und damit eine Interessenvertretung der Bürgerinnen und Bürger im Allgemeinen sicherzustellen. Dies ist nichts weniger als eine Sache grundsätzlicher Menschenrechte.
Konsens als politische Entscheidungsprozedur benötigt prinzipiell, dass jeder Repräsentant nach dem Bedenken aller Aspekte von der praktischen Notwendigkeit, wenn nicht gar vom Optimum jeder Entscheidung überzeugt ist.
Wenn die Diskussion auch nur annähernd rational und in einer Atmosphäre respektvollen Entgegenkommens aller Seiten verläuft, dann werden selbst die noch bestehenden Bedenken einer momentanen Minderheit nicht die Erkenntnis verhindern, dass eine bestimmte Handlungsrichtlinie eingeschlagen werden muss, wenn die Gemeinschaft vorankommen will.
Dies sollte nicht verwechselt werden mit Entscheidungsfindung nach dem Prinzip des Mehrheitsrechtes. Im diskutierten Fall herrscht die Mehrheit nicht über, sondern mit der Minderheit – sie überzeugt diese, den fraglichen Vorschlag mitzutragen und nicht einfach nur damit zu leben, wie es das grundsätzliche Leid von Minderheiten in einer Mehrheitsdemokratie ist.
Die Komplexität unseres heutigen afrikanischen Lebens macht also die parteilosen Vorläufer der traditionellen afrikanischen Politik keineswegs überflüssig, sondern im Gegenteil, sie sind unersetzlich.
Schon aus diesem Grund allein sollte die Erforschung einer solchen Alternative zur Mehrparteienpolitik dringend die Aufmerksamkeit zeitgenössischer afrikanischer Philosophen und Politikwissenschaftler auf sich ziehen.
Aber an der Idee selbst ist nichts besonders Afrikanisches. Wenn sie Gültigkeit besitzt, besonders im Hinblick auf ihre Menschenrechtsdimension, dann sollte sie für unsere gesamte Gattung von Belang sein.
Wir müssen neue Wege finden, Dinge zu tun, und die Konsensbildung ist ein guter Anfang. Es ist an der Zeit, dass wir alle zusammenkommen und herausfinden, wie wir die Probleme der Welt lösen können. Lass mich in den Kommentaren wissen, was du von der Konsensbildung als Mittel zur Lösungsfindung hältst. Ich würde mich freuen, deine Gedanken zu hören!
Zum Autor
Der in Ghana geborene Prof. Dr. Kwasi Wiredu (1931 – 2022) war einer der bekanntesten Philosophen Afrikas. Er lehrte afrikanische Philosophie an der Oxford Universität Tampa/Florida. Als einer der führenden Philosophen im Bereich Interkulturelle Studien machte er sich vor allem mit seiner Konsensethik einen Namen.
Konsensentscheidung in der Praxis
Schon seit Jahren wendet die Kommune Niederkaufungen das Konsensprinzip an. Wie sie das genau umsetzen, kannst du im Artikel Konsens auf ihrer Webseite nachlesen.
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- siehe auch Anarchie – Sternstunde der Menschheit [↩]
Liebe Hannelore.
Mich freut es sehr, dass du wieder aktiv bist.
Ich hätte folgenden Kommentar zum Artikel:
Ich habe etwa 12 Jahre in einem Dorf im bolivianischen Altiplano gelebt, und dort auch regelmässig die Gemeindeversammlungen besucht.
Die Entscheidungen wurden meistens im Konsens getroffen, (deshalb dauerten sie so lange) aber manchmal kam folgender Gebrauch zum Zuge.
Wenn in einem Punkt einfach kein Konsens gefunden werden konnte, aber klar war, dass die grosse Mehrheit auf einer Seite stand, hat aus der Versammlung irgend jemand gesagt: Abstimmung, Abstimmung. Dann wurde abgestimmt, und alle waren zufrieden.
Hier in La Paz, in einigen Gruppen habe wir auch diese Art von Demokratie eingeführt. Wir nannten sie ‚democracia Sajama‘, nach dem Ort Sajama.
Es gilt folgende Regel zu beachten.
Man kann nur Abstimmung fordern, wenn sich eine übergrosse Mehrheit abzeichnet. Wenn das nicht der Fall ist, wird weiter gemacht und womöglich der Punkt vertagt.
Zweitens kommt der Vorschlag für die Abstimmung immer aus der Versammlung, nie vom Vorstand, oder von einem Vorstandsmitglied.
In Sajama kamen solche Beispiele vor, wenn z.B. eine kleine Gruppe gegen etwas war, weil es irgendwie gegen jemanden aus der Verwandtschaft richtete. Alle wussten, dass diese Gruppe den Verwandten verteidigen ‚musste‘, nicht aus sachlichen, sondern aus persönlichen Gründen. Nach der Abstimmung war auch diese kleine Gruppe zufrieden, denn sie hat ja ‚gekämpft‘, so lange wie möglich.
Lieber Pedro,
vielen Dank für deine Beschreibung!
Ich freue mich über jedes Beispiel von Konsensentscheidungen.
Die Variante, dass Abstimmung vorgeschlagen wird, ist interessant. Natürlich ist der springende Punkt, dass der Vorschlag „von unten“ und nicht „von oben“ kommt.